einwanderung – und auswege? zur lage der nation

bemerkungen. und ein paar unbequeme fragen zwischendurch.

wer bleibt in diesen tagen unberührt? ein thema überlagert alles. und zu recht. emotionale achterbahn. egal wie man denkt.

persönliche rückblende. dezember 2001. mit 19 flieg ich über den ozean. bleibe für 14 monate in mexiko. ohne heimkehr dazwischen. (für die, die mich nicht so gut kennen: zivildienst bei den salesianern don boscos in tijuana. klasse sache.) anfangs war die sache aber noch nicht so klasse, sah mich kaum hinaus, fragte mich, was ich hier mache, so weit weg von daheim, in einem land, das ich nicht kenne, dessen sprache ich viel mehr schlecht als recht spreche. anfangs verstand ich fast nichts … aber ich war freiwillig dort. und es wurde (bis damals) zur wichtigsten und schönsten erfahrung meines lebens.

wenn man freiwillig für eine gewisse zeit weit weg geht und weiß, man wird wieder mal zurückkehren und daheim wird alles ok sein … und trotzdem ist es schwierig, heftig, geht auf die psyche … dann versteht man (viel)leicht, was in menschen vorgehen mag, die weder freiwillig noch wissend, ob die zeit in einem entfernten unbekannten land begrenzt sein wird, sich auf den weg machen (der wiederum viel komlizierter und weit gefährlicher ist als es mein flug damals war).

angesichts der derzeitigen situation ist mein kopf durcheinander. versuche trotzdem, meine gedanken ein wenig zu ordnen.

eine doppelte angst greift um sich. die angst vor den flüchtlingen, vor den fremden. und damit gekoppelt die angst vor der eigenen zukunft. beide ängste werden geschürt. doch der reihe nach.

die angst vor den fremden. vermutlich die urangst: vor dem fremden an sich. die, die diese ängste schüren, verbreiten unwahrheiten oder verallgemeinern wahre einzelfälle. flüchtlinge werden schlechtgemacht, „belabelt“: böse wirtschaftsflüchtlinge, terroristen/kriminelle seien darunter, … flüchtlinge hinterlassen müll. sie stehlen den bauern die äpfel. jedes detail wird gegen sie verwendet und generalisiert. fremde gruppen schlecht machen, hass auf sie zu erzeugen, das konnte auch hitler gut … die juden, die zigeuner, die behinderten, …

die angst vor der eigenen zukunft. ich vermute ja, das ist die größte angst. die angst, dass der reichtum aufgeteilt wird, dass es einem finanziell vielleicht nicht mehr so gut gehen könnte in 10 jahren. plus die angst, dass in zukunft „heimat“ aufhört, die gewohnte „heimat“ zu sein, wo alle deutsch sprechen und österreichisch aussehen. gerade mit dieser doppelten zukunfts-angst (angst vor der finanziellen zukunft und vor der heimat-zukunft) wird kleingeld gemacht. politisches. ätzend.

vielleicht auch im extremfall die angst, einst das gleiche schicksal zu erleben. in den gesichtern der flüchtlinge das eigene los zu entdecken, falls es bei uns einmal zu katastrophen kommen sollte und wir flüchten müssten.

weit weniger schlimm die angst, den ersten schritt auf fremde zuzugehen. wenn man schon so weit ist, helfen zu wollen.

zwischendurch schnell ein paar subjektive plus- (danke!) und minuspunkte:
+ für die öbb, vor der ich endlich wieder achtung habe
+ für die bundesregierung österreichs, die jetzt scheinbar echt versucht, möglichst das beste zu machen ohne die menschenwürde aus den augen zu verlieren
+ größtes plus für all die freiwilligen helfer_innen, unterstützer_innen, spender_innen, aktive in dieser sache. ob sie kirchlich sind oder nicht, komplett egal. (aber bitte keine „die kirche macht zuwenig“-sager mehr, die sind inhaltlich falsch und unangebracht.) auch ein danke an die hilfsorganisationen
+ für die jugendlichen und jungen erwachsenen österreichs, die sich engagieren. es ist wärmend, in sozialen netzwerken zu verfolgen, was sich spontan alles organisierte und auch funktioniert
+ internetseiten wie refugees.at. oder studierende, die die ferien zum totaleinsatz nutzten. hut ab. die vernetzung wirkt (in dieser situation sehr positiv)

– den hasspredigern. nein, nicht den islamistischen diesmal. sondern den hc straches und victor orbáns dieser welt, die politische stimme/macht haben und diese für menschenverachtende idiotie und angstmache (zum eigenen vorteil) zweckentfremden
– der fpö generell, die trotz menschlichen tragödien wahlkampf mit anti-flüchtlings-parolen macht
– der selben bundesregierung, die zwar (verspätet) ganz gut reagiert, aber nicht agiert. die die gelder für entwicklungshilfe jahrelang kürzte (2014 0,26 % statt der „zielmarke“ 0,70 % des bip); und sich dann wundert, dass es menschen in anderen ländern so schlecht geht, dass sie irgendwann anderswo zuflucht suchen. (ja, der zusammenhang ist nicht direkt kausual; aber dazu, zur „entwicklungshilfe“, später.)
– den „katholischen“ (?) bischöfen mancher länder, die ob ihrer nationalistischen (statt christlichen) aussagen m.e. abgesetzt gehörten (wenn das so leicht ginge …)

helfen tut gut.
helfer_innen stoßen aber auch ob der bisher unbekannten flüchtlings„ströme“ an ihre grenzen. helfen kann überfordern. wie viele flüchtlinge (noch zusätzlich) würden uns wirklich überfordern? (fragen sich viele)
wie viele menschen mit „helfersyndrom“ sind derzeit aktiv?
darf helfen in dieser situation „befriedigen“? darf helfen glücklich machen, während andere leiden? wie passen hilfe und glück zusammen?

sind wir wirklich schon überfüllt? überlaufen? woran messen wir das? wer definiert „genug geholfen“? was ist mit den ländern italien und griechenland, die wir in stich ließen (stichwort lampedusa)? haben wir die toten im mittelmeer vergessen (die bei uns so etwas wie der erste nachdenkanstoß waren)? was ist mit jordanien (bildlink)? was mit der türkei?
wo bitte ist österreich überfüllt? an bestimmten neuralgischen punkten maybe. und da wären wir bei der kaum auszuhaltenden gleichzeitigkeit von „normalltag“ (normaler alltag wie bisher) und ausnahmezustand in unserem land (letzterer scheinbar überall, wenn man eine zeitung aufschlägt); oder, wie es ein alter freund auf fb formulierte: „am heimweg vom einsatz im flüchtlingsnotquartier in der pfarre frag ich mich: wie kann es sein, dass träger alltag und absoluter ausnahmezustand in unserer stadt, unserem land, in unserer welt so derart parallel und isoliert voneinander existieren?“ (gute frage, beto!) mir fällt es derzeit schwer, normal zu leben, sobald ich an die situation denke, und gleichzeitig fällt mir auf, dass ich trotzdem oft im alltag aufgehe.
wie viel ausnahmezustand verträgt der alltag?

gewissheit (und vorfreude), dass „heimat“ in zukunft anders definiert werden muss. dass heimat nicht „100% lederhose“ (und auch nicht 80 oder 60%) bedeuten wird, sondern, sich wohlzufühlen in einem multikulturellen land (das österreich „immer schon“ war).

biblisch: grunderfahrung, dass wir selbst immer fremd sind/waren. die bibel ist voll mit asylsuchenden, flüchtlingen, … will ausdrücken, dass fremd sein „das normalste auf der welt“ ist, dass uns das (als volk, als einzelne) immer wieder passierte und passiert. plus die (wichtige!) erkenntnis der biblischen zeit: sei gut zu den fremden, denn du selbst warst fremd …! (und wirst immer fremde_r, gast auf erden sein …)

was schaffen grenzzäune? außer zeit zum nachdenken (und reagieren)? haben wir zeit dafür?

die ängste: sind zum teil berechtigt. weil angst haben menschlich ist.
wir sollten die ängste ernst nehmen und entkräftigen.
menschen ernst nehmen, die angst haben. mit ihnen reden. uns die ängste der menschen genau anschauen, schauen, was berechtigt ist, und an den ursachen der angst was ändern.
ängste entkräftigen: mit statistik, wahrheit, kommunikation. wie viel geld verschwendet die politik in eigenwerbung (wahlkampf, aber auch in nicht-wahlkampf-zeiten)? wie viel geld wird investiert in sinnvolle, nüchterne, aufklärende information, auch für „durchschnittsbürger_innen“? in information, bei der man nicht selbst gut dasteht, sondern anderen das gefühl gibt, mehr von der aktuellen situation zu verstehen? (mit den meisten medien dürfen wir ja leider nicht rechnen, aber politik könnte diese aufgabe erfüllen.)

am ende meiner gedanken: agieren statt und reagieren.

reagieren: menschlich und unbürokratisch. österreich ist da derzeit ausnahmsweise vorbild.

agieren: es führt nichts am zusammenhelfen beim bau einer gerechteren welt vorbei. eine gerechtere welt, eine welt, in der, wie wir ja scheinbar wollen, andere nicht flüchten müssen (auch zum eigenen schutz), wird eine welt sein, in der unser gewohnter luxus vergangenheit sein wird/müsste. d.h. jede_r kann jetzt schon anfangen, den eigenen luxus zu minimieren. eine wirtschaft, die immer nur wächst bei uns, ohne auf kosten anderer zu gehen, wird nicht aufrechtzuerhalten sein. gesundschrumpfung: ist nötig, wird weh tun – und auf lange sicht gut tun. was wollen wir? eine gerechte welt? oder doch nur den narzistischen luxus, in dem derzeit viele sprichwörtlich baden? (während es parallel auch vielen „inländer_innen“ derzeit schon an vielem mangelt …)
was uns allen helfen würde international: eigeninteressen (der staaten, firmen) zurückstellen, international wirklich schulterschluss suchen, worte abrüsten, (bürger)kriege entschärfen, hunger bekämpfen, menschen zur selbsthilfe befähigen statt milliarden in sinnlosigkeiten (auch in der „entwicklungshilfe“) stecken, vertrauen aufbauen.

es ist nicht alles gut, was die „lage der nation“ betrifft. bei weitem nicht. manche ängste sind berechtigt; sogar die angst, dass die politik nicht einmal das reagieren schaffen wird. ohne uns sicher nicht. wir sind gefordert. wir alle, du und ich. beim reagieren – und mindestens soviel beim agieren.

ps: es gibt mittlerweile sogar eine eigene wikipedia-seite zum thema flüchtlingskrise in europa 2015: hier

Eine Antwort zu “einwanderung – und auswege? zur lage der nation

  1. danke für die nachvollziehbaren und wertvollen (sehr ehrlichen) gedanken! vieles spricht mir aus dem herzen und ich freue mich, dass du die gedanken verbalisiert hast …

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